Seit Hubbles und Lamaîtres Entdeckung der Expansion des Universums – und vor allem seit ihrer quantitativen Beschreibung dieses Vorgangs – bestand das Problem zunächst darin, die Expansionsgeschwindigkeit genau zu ermitteln. Mit dem technischen Fortschritt wurden die Messmethoden präziser – und damit auch der ermittelte Wert.
Doch im Laufe der Zeit zeigte sich, dass mit diesem Wert etwas grundsätzlich nicht stimmte. Verschiedene Methoden sollten gemäß Theorie dieselbe Expansionsgeschwindigkeit messen, doch sie lieferten Werte, die leicht voneinander abwichen. Und mit der Zeit wurde immer mehr klar, dass diese Diskrepanz, obgleich sie nicht besonders hoch ist, sich nicht alleine durch Messungenauigkeiten erklären lässt. Es scheint vielmehr ein verstecktes generelles Problem dahinterzustecken – ein Problem, welches die Kosmologen immer mehr zur Verzweiflung treibt und die Kosmologie in eine regelrechte Krise gestürzt hat. Und damit womöglich sogar unser Verständnis von der eigentlichen Natur des Universums …
Die Hubble-Konstante – wie schnell expandiert unser Universum?
Edwin Hubble und George Lamaître befassten sich in den 1920er-Jahren mit Abstands- und Fluchtgeschwindigkeitsmessungen von Galaxien in unserer galaktischen Nachbarschaft und stellten im Ergebnis einen linearen Zusammenhang fest: Die durchschnittliche Fluchtgeschwindigkeit einer Galaxie ist proportional zu ihrem Abstand zu uns. Mathematisch lässt sich dieser Zusammenhang sehr leicht formalisieren: Ist G eine Galaxie, \(d_G\) ihr Abstand (zu uns) und \(v_G\) ihre Fluchtgeschwindigkeit, dann gibt es eine Konstante \(H_0\), so dass
\(v_G = H_0 \cdot d_G \)gilt. Dieser Proportionalitätsfaktor \(H_0\), der genau das Verhältnis von durchschnittlicher Fluchtgeschwindigkeit zum Abstand angibt, wird heutzutage als Hubble-Konstante bezeichnet.
In seiner Originalarbeit hatte Hubble diesen linearen Zusammenhang zwar festgestellt, allerdings ermittelte er für den Proportionalitätsfaktor aufgrund seiner Nichtunterscheidung zwischen δ-Cepheiden vom Typ I und II noch einen falschen Wert. 1929 gab Hubble einen Wert an, der in unserer Notation etwa den Wert
\(H_0 \approx 500 \frac{\text{km}/\text{s}}{\text{Mpc}}\)hätte, wobei Mpc den Megaparsec, also den Wert 1.000.000 Parsec = 3.262.000 Lichtjahre abkürzt. 1927 gab Lamaître in seinem Aufsatz, das in „Annales de la Société scientifique de Bruxelles“ publiziert wurde, sogar den Wert
\(H_0 \approx 625 \frac{\text{km}/\text{s}}{\text{Mpc}}\)an. Wir können an einem kleinen Beispiel betrachten, was Hubbles Relation konkret liefern würde. Besitzt eine Galaxie A einen Abstand von 20.000.000 Lichtjahren = 6,131 Mpc, so hätte sie (im durchschnittlichen Fall) nach Hubbles Relation eine Fluchtgeschwindigkeit von
\(v = H_0 \cdot 6,131 \ \text{Mpc} = 500 \frac{\text{km}/\text{s}}{\text{Mpc}} \cdot 6,131 \ \text{Mpc} = 3.066 \frac{\text{km}}{\text{s}}.\)Eine Galaxie B in einem Abstand von 100.000.000 Lichtjahren = 30,656 Mpc hätte (im durchschnittlichen Fall) bereits eine Fluchtgeschwindigkeit von
\(v = H_0 \cdot 30,656 \ \text{Mpc} = 500 \frac{\text{km}/\text{s}}{\text{Mpc}} \cdot 30,656 \ \text{Mpc} = 15.330 \frac{\text{km}}{\text{s}}.\)Nachdem die δ-Cepheiden korrekt klassifiziert wurden und Hubbles Fehler damit auffiel, wurde auch der Wert der Hubble-Konstante deutlich gesenkt, und die heutigen Untersuchungen siedeln ihn an bei etwa
\(H_0 \approx 70 \frac{\text{km}/\text{s}}{\text{Mpc}}.\)Mit dieser Korrektur fallen auch sofort die errechneten Werte aller Fluchtgeschwindigkeiten, was implizit das Alter des Universums – ausgehend von Hubbles anfänglicher Schätzung von etwa 2 Milliarden Jahren – auch deutlich nach oben hebt. Was würde diese Korrektur für unsere beiden Beispielgalaxien bedeuten? Unsere Galaxie A hätte damit eine Fluchtgeschwindigkeit von etwa
\(v = H_0 \cdot 6,131 \ \text{Mpc} = 70 \frac{\text{km}/\text{s}}{\text{Mpc}} \cdot 6,131 \ \text{Mpc} = 429 \frac{\text{km}}{\text{s}},\)die Galaxie B eine Fluchtgeschwindigkeit von etwa
\(v = H_0 \cdot 30,656 \ \text{Mpc} = 70 \frac{\text{km}/\text{s}}{\text{Mpc}} \cdot 30,656 \ \text{Mpc} = 2.146 \frac{\text{km}}{\text{s}}.\)An dieser Stelle sollte man sprachlich – und auch mathematisch – ein wenig Acht geben. Wie bereits erwähnt hatte die Expansionsrate des Universums nicht immer denselben Wert. Die ersten 6 – 7 Milliarden Jahre verlangsamte sich die Expansion aufgrund der gegenseitigen Gravitation aller Galaxien, danach aber setzte eine – bis heute schlecht verstandene – Beschleunigung der Expansion ein, für die die Dunkle Energie verantwortlich gemacht wird. Diese Erkenntnisse bedeuten, dass der Wert \(H_0\) der Hubble-Konstante sich mit der Zeit ändert. Es wäre also sinnvoller, für diesen die Bezeichnung \(H_0(t)\) zu reservieren, wobei t die seit dem Urknall verstrichene Zeit ist, und zu betonen, dass \(H_0(t)\) für die heutige Zeit t = T (= heutiges Alter des Universums) etwa den Wert
\(H_0(T) \approx 70 \frac{\text{km}/\text{s}}{\text{Mpc}}\)besitzt.
Weitere Jahrzehnte kosmologischer Forschung und Ausbau der Urknalltheorie lieferte den Astronomen ein immer genaueres theoretisches Bild vom Aufbau und der Dynamik unseres Universums, in dessen Mittelpunkt die (zeitlich abhängige) Hubble-Konstante \(H_0\) steht. Die Theorie zeigte auch, dass der Wert dieser Konstante mit Hilfe mehrerer voneinander unabhängiger Methoden bestimmt werden kann – beispielsweise über die Rotverschiebungsmessung oder über die Hintergrundstrahlung.
Wie können wir die Hubble-Konstante messen?
Tatsächlich ergaben sich parallel zum Ausbau der kosmologischen Theorie und dem Fortschritt der technischen Möglichkeiten verschiedene Messmethoden für die Hubble-Konstante, die wir im Folgenden näher betrachten wollen.
Distanz- und Rotverschiebungsmessung: Die Bestimmung der Hubble-Konstante beruht auf der Messung der Distanzen zu weit entfernten Galaxien sowie der Messung ihrer Rotverschiebungen. Mit Hilfe von Cepheiden und Supernovae vom Typ Ia – der beiden häufig gebräuchlichen Standardkerzentypen – lassen sich die Distanzen bis in große Tiefen des Universums ermittelt. Das Spitzer-Weltraumteleskop ermittelte 2012 für die Hubble-Konstante den Wert
\(H_0(T) \approx (74{,}3 \pm 2{,}1) \frac{\text{km}/\text{s}}{\text{Mpc}},\)das Hubble-Weltraumteleskop 2009 den ähnlichen Wert
\(H_0(T) \approx (74{,}2 \pm 3{,}6) \frac{\text{km}/\text{s}}{\text{Mpc}}.\)Weitere Untersuchungen (2022, 2023) mit Hilfe des Hubble-Weltraumteleskops konnten diesen Wert noch einmal auf
\(H_0(T) \approx (73{,}04 \pm 1{,}04) \frac{\text{km}/\text{s}}{\text{Mpc}}\)präzisieren. Messungen des Chandra-Weltraumteleskops (2006 – 2008) ergaben dagegen den von den beiden vorher angeführten Messungen leicht nach oben abweichenden Wert
\(H_0(T) \approx (77 \pm 4) \frac{\text{km}/\text{s}}{\text{Mpc}}.\)Messungen mittels Gravitationslinsen: Eine andere Methode macht sich den sogenannten Gravitationslinseneffekt zunutze – einen Effekt, mit dem Einsteins Relativitätstheorie 1919 erstmals experimentell bestätigt wurde. Hierbei wird das Licht eines Sterns oder einer Galaxie von Massen zwischen dem Beobachter und der Lichtquelle abgelenkt, so dass die Lichtquelle verzerrt oder sogar vervielfacht erscheint (Abb. 1).

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Gravitationslinseneffekt#/media/Datei:Gravitationslinse.gif
Bei dem Gravitationslinseneffekt werden die Helligkeitsschwankungen um eine Gravitationslinse ausgewertet. Das Licht einer Quellgalaxie wird dabei typischerweise durch eine davorliegende Galaxie abgelenkt, wodurch sich mehrere Abbilder der Quelle ergeben. Ändert sich nun die Helligkeit der Quellgalaxie, so macht sich dieser Unterschied zu unterschiedlichen Zeiten in den verschiedenen Abbildern bemerkbar. Die gemessenen Zeitunterschiede erlauben daraus eine Messung der absoluten Entfernung zur Quellgalaxie. Aus der ermittelten Entfernung und der gemessenen Rotverschiebung lässt sich die Expansionsrate des Universums schließlich bestimmen. Die Auswertung von Hubble-Bildern nach der Gravitationslinsen-Methode (2010) ergibt den Wert
\(H_0(T) \approx (69{,}7 \pm 4{,}9) \frac{\text{km}/\text{s}}{\text{Mpc}},\)der etwas unterhalb des Wertes liegt, der mittels der Standardkerzenmethode gewonnen wurde.
Messungen des WMAP: Die Auswertungen der Messungen der Raumsonde WMAP, die die kosmische Hintergrundstrahlung mit ihren Anisotropien genau kartografiert hat, ergaben den Wert
\(H_0(T) \approx (70{,}5 \pm 1{,}3) \frac{\text{km}/\text{s}}{\text{Mpc}}\)Verschiedene Untersuchungen und Auswertungen liefern hier also in der Tat teils deutlich verschiedene Werte für die Hubble-Konstante, die allerdings alle mit gewissen statistischen Unsicherheiten behaftet sind.
Doch was genau bedeuten die Unsicherheiten, und welche Aussagen können wir damit für den tatsächlichen heutigen Wert der Hubble-Konstanten treffen?
Diskussion der Abweichungen
Zunächst einmal müssen wir die jeweils angegebenen Unsicherheiten korrekt interpretieren. Die Messung der Hubble-Konstante – oder allgemein die experimentelle Bestimmung einer physikalischen Konstante – beruht in der Regel auf einer längeren Messreihe, bei der die einzelnen Messungen durchaus Störeinflüssen unterliegen können. Als experimentell ermittelten Wert wird in der Regel ein Mittelwert µ aller Messungen herangezogen und als Unsicherheit die sogenannte Standardabweichung σ. Als Wertebereich für den Aufenthalt der gesuchten Konstante wird dann einfach das Intervall [µ – σ, µ + σ] angegeben. Dabei ist es statistisch nur sehr wahrscheinlich, dass sich die gesuchte Konstante auch tatsächlich in diesem Intervall aufhält, jedoch nicht sicher. Es kann also sein, dass man einfach eine sehr unglückliche Messreihe erwischt hat, für die der wahre Wert der Konstanten außerhalb des Intervalls liegt. In etwa so lassen sich auch die verschiedenen Messungen für die Hubble-Konstante verstehen. Die einzelnen oben angeführten Messreihen für die Hubble-Konstante sind in Abb. 2 aufgeführt, zusammen mit den Unsicherheiten.

In der Tat sehen wir sofort, dass sich einige Intervalle in Abb. 2 gegenseitig ausschließen wie etwa die Messungen des Hubble-Weltraumteleskops 2022 – 2023 und die Messungen des WMAP. Gleiches trifft auf das Weltraumteleskop Chandra und die Messungen des WMAP zu.
Betrachten wir die Situation also rein statistisch, so ist solch eine Situation aus der Sicht der Statistik durchaus etwas ungewöhnlich, jedoch nicht unmöglich. Es kommt hierbei auf viele Faktoren an, unter anderem aber auch auf die Sorgfalt der vorgenommenen Messungen selbst.
Die Kosmologie in der Krise – messen wir schlecht, oder ist unser Weltbild womöglich grundlegend falsch?
Dass verschiedene Messmethoden zu verschiedenen Werten für ein Messproblem kommen, ist zunächst einmal nichts Ungewöhnliches. Schließlich ist, wie weiter oben erwähnt, jede Messung fehlerbehaftet und die Fehler resultieren aus den verschiedensten Quellen. Doch bei der Messung der Hubble-Konstante ergab sich nach vielen Jahren akkurater Studien, Berechnungen und erneuter Auswertungen älterer Daten leider ein etwas differenzierteres Bild.
Man kam – nach einer Abschätzung des Fehlerpotenzials einer jeden Messmethode – irgendwann zu der Erkenntnis, dass die verschiedenen Werte für die Hubble-Konstante sich nicht allein durch Fehlerquellen oder Messungenauigkeiten erklären lassen. Es ist vielmehr so, dass sich die einzelnen Werte sogar teilweise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gegenseitig ausschließen.
Diese langsam durchsickernde Erkenntnis stürzte die Kosmologie langsam aber sicher in eine Krise, denn der Grund für die Abweichungen der einzelnen Messwerte ist bis heute unklar und lässt sich nicht durch das Standardmodell der Expansion erklären. Viele Astrophysiker neigen sogar mittlerweile zu der Ansicht, dass unser Standardmodell vom Urknall und der Expansion des Universums nicht oder zumindest nicht ganz richtig ist und einer grundlegenden Modifikation bedarf. Andere Forschende wiederum bemängeln die Qualität der Daten oder sogar die Messmethode als solche.
Bis heute ist die Frage nach der Diskrepanz zwischen den einzelnen Werten leider mehr als ungeklärt. Doch vielleicht bietet diese Krise unserer Astrophysikergemeinschaft eine einmalige Chance, unser Weltbild zu korrigieren und einen weiteren Meilenstein im Verständnis unserer Welt und unseres Seins zu legen. Denn schließlich begann jede erfolgreiche Revolution mit einer Krise …