Die Multiversum-Theorie – Ist der Urknall doch nichts Besonderes?

Die Inflationstheorie, die ins Leben gerufen wurde, um konzeptionelle Schwächen der Urknalltheorie zu beheben, brachte gleichzeitig auch ihre eigenen theoretischen Paradoxa mit sich, die die Astrophysik bis heute beschäftigen. Insbesondere legt sie nahe, dass der Urknall womöglich kein einmaliges und universelles Ereignis war und dass es stattdessen eher sehr viele Urknalle gegeben hat – und noch geben wird. Und dass unser Universum damit wahrscheinlich nicht das einzige physikalische Dasein ist, sondern viel eher in ein deutlich größeres Konzept eingebettet werden kann – in das Multiversum. Die Multiversum-Theorie – richtig formuliert – erklärt auf theoretischer Ebene aber auch viele andere physikalische Probleme, die in einem Universum nur schwer gelöst und gar völlig unverstanden sind. Dazu gehören unter anderem die „feine Justierung“ aller Naturkonstanten, die in unserem Universum „zufällig“ genau die richtigen Werte annehmen, um es langfristig zu stabilisieren, ebenso wie die Existenz der Dunklen Energie. In bestimmten Multiversum-Modellen finden diese und andere Probleme eine ganz natürliche Lösung.

Die Inflation – War der Urknall doch nichts Einzigartiges?

Gemäß der derzeit von den meisten Astrophysikern akzeptierten Inflationstheorie stoppte die stark beschleunigte Expansion des Universums nach nur einem Bruchteil einer Sekunde. Allerdings existiert eine Modifikation der Inflationstheorie, die als „inflationäres Multiversum“ bezeichnet wird, und gemäß der sich die Inflation weiter fortsetzt – nur nicht in unserem Universum, wo wir sie sehen könnten. Währenddessen erzeugt sie andere Universen. Und selbst wenn sie in diesen Räumen stoppt, setzt sie sich in anderen fort. Diese „ewige Inflation“ würde auf diese Weise eine unendliche Anzahl anderer Universen hervorbringen. Diese kosmischen Inseln, von denen eine gerade unser Universum bildet, bezeichnet man heutzutage als ein „Multiversum“ (Abb. 1).

Abb. 1: Das Multiversum – Unendlich viele einzigartige Universen.
Quelle: KI-generiertes Bild (erstellt mit Unterstützung von ChatGPT).

Tatsächlich lässt sich diese Theorie bis heute nicht belegen. Allerdings löst sie, genau wie die Inflationstheorie, gleichzeitig mehrere aus kosmologischer Sicht sehr vertrackte Probleme, weswegen immer mehr Physiker sie als eine ernstzunehmende Alternative zur Universum-Theorie in Betracht ziehen. Ein gewichtiges Argument – allerdings eher auf philosophischer Ebene – dürfte beispielsweise das Folgende sein: Jedes Mal, wenn die Menschheit dachte, dass ein Objekt oder ein Ereignis etwas Einzigartiges sei, lag sie falsch. Beim geozentrischen Weltbild war die einzigartige Erde im Mittelpunkt des Universums, was nachweislich falsch war. Das heliozentrische Weltbild stellte die Sonne ins Zentrum allen Seins, was sich ebenfalls als ein Trugschluss herausstellte. Vor den Arbeiten von Hubble und Lamaître gab es nur eine Galaxie – die Milchstraße. Heutzutage kennen wir Milliarden von Galaxien, von denen einige noch deutlich bizarrer als die Unsere ist. Und bis heute sind wir der Ansicht, dass der Urknall ein besonderes und einmaliges Ereignis war …

Das Problem der Feinabstimmung der Naturkonstanten

Die Physik kennt heute eine ganze Reihe wichtiger physikalischer Konstanten – das sind wichtige physikalische Charakteristiken, die die physikalischen Gesetze maßgelblich diktieren. Dazu gehören beispielsweise etwa die Gravitationskonstante, die die genaue Stärke der Gravitation regelt, die elektrische Feldkonstante, die die Stärke der elektromagnetischen Kraft diktiert, die Lichtgeschwindigkeit, die die Obergrenze der Fortbewegungsgeschwindigkeit im Raum angibt, aber auch etwa die Ruhmassen und Ladungen bestimmter Elementarteilchen und viele andere.

Diese Konstanten regulieren die gesamte Physik und sind in vielen physikalischen Gesetzen tief miteinander verwurzelt. Im Grunde könnte man also die bestehenden physikalischen Gesetze formal genauso aufschreiben, wenn die physikalischen Konstanten beliebige andere Werte annehmen würden, nur würde dann die Physik unter Umständen auch ganz anders aussehen.

Das Problem an der ganzen Sache beginnt jedoch damit, dass es sich zeigen (und simulieren) lässt, dass wir äußerst unangenehmen Bedingungen ausgesetzt wären, hätten unsere Naturkonstanten auch nur geringfügig andere Werte als die Gegebenen. Dies würde sogar in vielen Fällen dazu führen, dass unser Universum nicht seine gewohnte Stabilität hätte. Eine geringfügig falsche Abstimmung der Konstanten könnte etwa nach einer sehr kurzen Zeit eine Kontraktion und einen Zusammenbruch des Universums bewirken oder aber eine ewige Expansion ohne auch nur die Bildung einfachster Atome. Tatsächlich ist die sehr fein abgestimmte Konfiguration der Naturkonstanten für den heutigen Stand der Wissenschaft mehr als erstaunlich und eine – allgemein akzeptierte – plausible Erklärung für dieses Phänomen bleibt bisher aus. Eine korrekte Formulierung einer Multiversum-Theorie dagegen könnte für diesen „erstaunlichen Zufall“ eine äußerst einfache Erklärung bieten. Gemäß dieser würde jedes neu erzeugte Universum seine eigenen physikalischen Gesetze – und damit insbesondere seine Werte für die physikalischen Konstanten – festlegen und damit theoretisch nahezu beliebige Kombinationen für die Werte der Naturkonstanten generieren können. Dies würde, rein statistisch, eine sehr große Anzahl an instabilen oder sehr unwirtlichen Universen erzeugen und nur sehr wenige langfristig stabile Welteninseln. Von diesen „misslungenen“ Exemplaren würden wir jedoch kaum etwas mitbekommen, denn wir leben derzeit in einem Universum mit einer „gelungenen“ Konfiguration der Naturkonstanten, die unserer Welt eine langfristige Stabilität gewährt und gar Leben ermöglicht. Um es also auf einer etwas einfacheren Ebene auszudrücken: Wenn wir genügend Menschen hätten, die Lotto spielen, würde irgendwann einer dieser Spieler auch mehrmals nacheinander den Jackpot knacken – was in etwa der Wahrscheinlichkeit solch einer Feinabstimmung unter einer zufälligen Wertegenerierung für die physikalische Konstanten gleichkommt. Die Multiversum-Theorie würde diesen erstaunlichen Zufall also mit einem rein statistischen Argument plausibel erklären. Und genau das ist ein wichtiger Grund, weswegen die Multiversum-Theorie immer häufiger in den Fokus der Kosmologie-Forschung gerät.

Dunkle Energie – erklärbares Phänomen in einem Multiversum?

Die Dunkle Energie – der mysteriöse Sog nach außen, der unser Universum immer schneller auseinandertreibt – ist ein bis heute kaum verstandenes Phänomen, das in den späten 1990er-Jahren zum ersten Mal postuliert wurde, um die beschleunigte Expansion zu erklären. Zwar kann Einsteins kosmologische Konstante ein mathematisches Modell für eine beschleunigte Expansion liefern, physikalisch verstanden wurde der gesamte Sachverhalt – trotz einer mathematischen Konstruktion auf dem Papier – dennoch nicht.

Einige Modelle eines Multiversums, in das unser Universum als eines von sehr vielen eingebettet ist, könnte für die Dunkle Energie nun eine plausible Erklärung liefern. Einfach gesprochen erklären manche Modelle diesen „Sog“, der als Dunkle Energie interpretiert wird, durch eine Interaktion mit den anderen Universen, die unser eigenes umgeben – als ob diese mit ihrer Gravitation unser eigenes Universum auseinandertreiben. Tatsächlich existieren auch Simulationen dieser Modelle, deren Resultate mit den beobachteten Daten im Einklang stehen, was manche Forscher als einen starken Hinweis – aber eben noch nicht als einen Beleg – auf die Multiversum-Theorie sehen.

Doch trotz solch überraschend starker Hinweise auf die Existenz eines Multiversums bleiben viele solcher Multiversum-Modelle äußerst spekulativ und widersetzen sich bis heute jeglichem Nachweis.

Obwohl wir derzeit noch weit von einem unumstößlichen Beleg für die Richtigkeit der Multiversum-Theorie entfernt sind, so sind die ersten indirekten Hinweise auf ein Multiversum längst zu beobachten. Aus theoretischer Sicht jedoch sprechen mittlerweile viele Argumente für eine Einbettung unseres Universums in ein viel größeres Multiversum, das gleichzeitig einige wichtige kosmologische Probleme löst, die in einem Universum-Modell nicht direkt erklärbar wären – wie etwa die Feinabstimmung der Naturkonstanten oder die Existenz der Dunklen Energie. Doch allen voran fügt sich das Multiversum in den seit Jahrtausenden währenden Grundsatz, gemäß dem die Wissenschaft immer wieder aufs Neue feststellen musste, dass unser Dasein nichts Einzigartiges ist – auch wenn dies unserem menschlichen Geist stets missfällt.