Neutrinos – Die geisterhaften Teilchen des Universums

Neutrinos zählen zu den faszinierendsten und zugleich rätselhaftesten Teilchen, die die moderne Physik kennt. Sie sind nahezu masselos, elektrisch neutral und durchqueren Materie, als wäre sie fast gar nicht da. Milliarden von ihnen fliegen in jeder Sekunde durch unseren Körper – unbemerkt, unbeirrbar, unaufhaltsam und fast mit Lichtgeschwindigkeit. Und dennoch nehmen sie in der Astrophysik eine immer zentralere Rolle ein, denn sie könnten Antworten auf einige der größten offenen Fragen des Universums liefern.

Die Entdeckung eines Geistes

Die Geschichte der Neutrinos beginnt mit einem Problem. In den 1930er-Jahren stellte man bei Kernzerfällen – genauer gesagt beim Beta-Minus-Zerfall – fest, dass scheinbar Energie verloren ging. Das widersprach dem Energieerhaltungssatz – einem der heiligsten Grundprinzipien der Physik. Um dieses Dilemma zu lösen, postulierte der österreichische Physiker Wolfgang Pauli 1930 ein neues Teilchen, das beim Zerfall mitfliegt, aber mit Materie kaum in Wechselwirkung tritt. Eine gewagte Idee – schließlich war dieses Teilchen völlig unsichtbar (Abb. 1).

Abb. 1: Neutrinos – die geisterhaften Teilchen.
Quelle: KI-generiertes Bild (erstellt mit Unterstützung von ChatGPT).

Pauli selbst war von seinem Vorschlag so verunsichert, dass er ihn als “notwendiges Übel” betrachtete. Doch 1956 konnten Clyde Cowan und Frederick Reines das Neutrino erstmals experimentell nachweisen – mit einem Detektor nahe eines Kernreaktors. Ein Erfolg, der die Teilchenphysik revolutionierte und Reines später – aber erst im Jahr 1995 – den Nobelpreis einbrachte. Der Name „Neutrino“ wurde von dabei vom italienischen Physiker Enrico Fermi für das von Pauli postulierte Geisterteilchen vorgeschlagen und bedeutet – entsprechend der italienischen Verkleinerungsform inokleines neutrales Teilchen.

Drei Sorten und jede Menge Fragen

Nach dem heutigen Stand der Forschung existieren drei Arten von diesen „Geisterteilchen“ – das Elektron-, Myon- und Tau-Neutrino. Und sie besitzen eine ungewöhnliche Eigenschaft, die sie von den anderen Elementarteilchen unterscheidet: Sie können sich ineinander umwandeln. Dieses sogenannte Neutrino-Oszillieren bedeutet auch, dass Neutrinos eine Masse haben müssen – und damit war wieder einmal die Physik gezwungen, ihr eigenes Modell zu überdenken. Denn das Standardmodell der Teilchenphysik hatte die Masse der Neutrinos bislang mit Null angesetzt.

Tatsächlich ist die Bestimmung der Masse eines Neutrinos bis heute ein großes Problem der Physik, auf dessen Lösung sicherlich am Ende ein Nobelpreis winken wird. Sie ist bis heute nicht genau bekannt und es gibt höchstens Abschätzungen über ihre Größenordnung. Doch eines weiß man bereits: Sie muss sehr, sehr klein sein.

Was wir aber dennoch kennen, sind die Unterschiede zwischen den Massen der Typen –die absolute Skala dagegen ist noch ein Rätsel. Ein Rätsel, das von Experimenten wie KATRIN (Karlsruhe Tritium Neutrino Experiment) in Karlsruhe oder von kosmologischen Daten durch das Planck-Weltraumteleskop eingegrenzt werden soll. Überdies wurden seit dem Jahr 2011 Anomalien in Neutrinomessungen in Forschungsreaktoren festgestellt, die die Physiker schließlich zu der Hypothese verleiteten, es gäbe womöglich noch eine vierte Neutrinosorte, die man „steriles Neutrino“ taufte. Allerdings schlossen finale Auswertungen der STEREO-Kollaboration seine Existenz nahezu mit Sicherheit aus. Die Anomalien wurden zwar weiterhin bestätigt, ihre Ursachen liegen aber wohl in unterschätzten Unsicher­heiten in den Kerndaten aus den radio­aktiven Zerfällen, die für die Fluss­vorhersage verwendet wurden.

Masse oder keine Masse, das ist hier die Frage!

Während man die Massen „normaler“ Teilchen bereits sehr genau bestimmen (oder wenigstens abschätzen) konnte, verhielt es sich mit den Neutrinos tatsächlich etwas komplizierter. Um das Problem genauer zu verstehen, müssen wir uns zunächst einmal generell mit der Bedeutung der Masse bzw. der Masselosigkeit aus der Sicht der Relativitätstheorie befassen.

Generell kennt die Physik nur Interaktionen mit Teilchen, die eine Masse besitzen – eine Charakteristik, mit der sie eine Wirkung auf ihre Umwelt zeigen können. Elementarteilchen wie Protonen oder Elektronen beispielsweise besitzen eine Masse – die Ruhmasse eines Protons beträgt etwa \(1{,}6726 \cdot 10^{-27} \ \text{kg}\), die eines Elektrons etwa \(9{,}109 \cdot 10^{-31} \ \text{kg}\). Dabei müssen wir betonen, dass es sich bei diesen Werten stets um Ruhmassen handelt, also um Werte von Massen, bei denen das Teilchen im absoluten Ruhezustand verweilt. Die Relativitätstheorie besagt nämlich, dass die Masse eines Objekts wächst, wenn es sich relativ zum Beobachter bewegt – und somit eigentlich keinen absoluten, sondern einen relativen Wert besitzt. Beschleunigt man das Objekt immer näher an die Lichtgeschwindigkeit, so wächst seine Masse immer weiter – theoretisch sogar bis zur Unendlichkeit, weswegen man Massen niemals mit Lichtgeschwindigkeit bewegen kann. Die für diese Beschleunigung benötigte Energie steht nämlich nicht einmal im gesamten Universum zur Verfügung.

Das erste problematische Verhalten zeigen in dieser Hinsicht die Photonen – die Teilchen des Lichts. Dabei besitzt das Licht eigentlich einen Teilchen- und Wellencharakter, denn es verhält sich, je nach Situation, manchmal mehr wie ein Teilchen und manchmal mehr wie eine Welle. Als endlich gezeigt werden konnte, dass das Licht tatsächlich aus Teilchen besteht und keine immer weiter teilbare Wellenfront darstellt, war gemäß Einsteins Prinzip der Äquivalenz von Masse und Energie – eine Masse m entspricht nämlich stets einer Energie E gemäß der Beziehung \(E = m \cdot c^2\) – klar, dass ein Photon auch eine Masse besitzen muss. Nur können Massen gemäß der Relativitätstheorie leider nicht auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden, ein Photon aber rast permanent mit Lichtgeschwindigkeit durch den Raum. Tatsächlich lässt die Relativitätstheorie hier eine kleine Lücke zu: Nur massebehaftete Teilchen, also Teilchen mit einer positiven Ruhmasse, unterliegen dieser Einschränkung. Das Photon dagegen ist ein sogenanntes masseloses Teilchen – es besitzt die Ruhmasse 0 und kann im Ruhzustand eigentlich nicht existieren. Und ebenso kann es sich nicht langsamer als mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen, denn seine Masse würde augenblicklich auf 0 sinken und es würde aufhören zu existieren – zumindest als beobachtbares Teilchen. Mit anderen Worten kann es sich nur mit Lichtgeschwindigkeit bewegen und erhält erst in diesem Zustand seine Masse. Mehr noch: Da seine Energie von seiner Frequenz abhängt, hängt seine Masse ebenfalls von seiner Frequenz ab – die Masse eines Photons ist somit tatsächlich variabel. Da bei einer Bewegung mit Lichtgeschwindigkeit die Eigenzeit gemäß der Relativitätstheorie komplett stehenbleibt, bedeutet das außerdem, dass für ein Photon Entstehen und Vergehen somit stets derselbe Augenblick ist. Diese Eigenschaften machen die Photonen so eigenartig und für sorgen bei einem Einstieg in die Relativitätstheorie oft für Verwirrung.

Als das Neutrino entdeckt wurde, war aufgrund seiner sehr schwachen Wechselwirkung mit den anderen Materieteilchen lange Zeit nicht klar, ob es sich bei ihm um ein massebehaftetes oder ein masseloses Teilchen handelt. Tatsächlich ist mittlerweile zwar klar, dass ein Neutrino eine Ruhmasse besitzt und somit massebehaftet ist – denn die gemessenen Bewegungsgeschwindigkeiten der Neutrinos relativ zu uns liegen stets knapp unterhalb der Lichtgeschwindigkeit –, allerdings tut man sich mit der genauen Bestimmung seiner Masse bis heute immer noch sehr schwer. Man konnte zwar eine obere Schranke für seine Masse angeben, jedoch noch immer keine untere Schranke. Man weiß mit anderen Worten also, wie schwer es höchstens ist, jedoch nicht, wieviel es mindestens wiegen muss. Heute weiß man beispielsweise, dass seine Masse höchstens \(1{,}5 \cdot 10^{-36} \ \text{kg}\) betragen muss, was es mindestens fast eine Million Mal leichter als ein Elektron macht. Sie könnte aber noch weit tiefer liegen. Mittlerweile erhofft man sich genauere Ergebnisse aus den Daten des KATRIN-Experiments am Karlsruher Institut für Technologie, die eine Obergrenze für die Masse der Neutrinos liefern sollen. Tatsächlich konnten die Obergrenzen 2022 und noch einmal 2024 (in einem Preprint-Artikel) gesenkt werden.

Die Bedeutung für die Astrophysik

Neutrinos entstehen bei zahlreichen Prozessen im Universum: im Inneren der Sonne, bei Supernovaexplosionen, bei der Entstehung von Schwarzen Löchern und vermutlich auch beim Urknall selbst. Sie sind dabei oft schneller vor Ort als Licht – nicht, weil sie schneller fliegen, sondern weil Licht im Inneren eines Sterns diffus gestreut wird, während Neutrinos nahezu unbehelligt entweichen. Als Boten aus dem Innersten verraten sie uns daher Dinge, die kein anderes Teilchen berichten kann.

Ein berühmtes Beispiel für dieses Phänomen war die Supernova SN 1987A, die am 24. Februar 1987 entdeckt wurde und in der Großen Magellanschen Wolke – einer begleitenden Galaxie unserer Milchstraße – stattfand. Bereits wenige Stunden vor dem optischen Aufleuchten wurden Neutrinos auf der Erde registriert. Es war ein Meilenstein der Neutrinoastronomie – ein Fachgebiet, das heute mit Detektoren wie Super-Kamiokande in Japan oder dem riesigen IceCube-Observatorium in der Antarktis betrieben wird. Das IceCube-Observatorium ist heutzutage ein wichtiges Neutrino-Observatorium im Eis in der Antarktis (Abb. 2).

Abb. 2: Das IceCube-Observatorium.
Quelle: KI-generiertes Bild (erstellt mit Unterstützung von ChatGPT).

Mit seiner Hilfe können seltene Zusammenstöße von Neutrinos mit Bestandteilen des Eises nachgewiesen und auch die Richtung, aus der sie kommen, bestimmt werden. Die sehr seltene Kollision eines Myon-Neutrinos mit einem Molekül bewirkt die Umwandlung des Neutrinos in ein Myon, und das Myon setzt die Spur des Neutrinos fort und emittiert dabei einen Kegel blauen Lichts, das als Tscherenkow-Strahlung bezeichnet wird. Genau aus diesem Lichtkegel kann mit Hilfe der installierten Sensoren errechnet werden, aus welcher Richtung das Neutrino kam.

Supernovae – Stecken die Geisterteilchen hinter den gewaltigen Katastrophen?

Obwohl die Neutrinos mit normaler Materie kaum zu interagieren scheinen, spielen sie dennoch eine bedeutende Rolle bei den größten kosmischen Katastrophen: den Supernovaexplosionen. Sowohl theoretische Berechnungen als auch immer genauere Simulationen von Vorgängen in einem großen Stern kurz vor seinem Tod zeigen, dass gerade die Neutrinos die entscheidende Rolle im Mechanismus einer Supernova spielen.

Massereiche Sterne sterben – nach kosmischen Maßstäben – schnell und beenden ihr Leben mit einer gigantischen Explosion, einer sogenannten Supernova. Während ihres Lebens bauen solche Sterne durch sukzessive Kernfusionsprozesse einen zentralen Bereich aus Eisen auf. Sobald dieser auf die etwa eineinhalbfache Masse der Sonne angewachsen ist (diese Massengrenze ist bekannt unter dem Namen „Chandrasekhar-Grenze“), kollabiert er unter dem Einfluss der eigenen Schwerkraft, da weitere Fusionen nicht mehr stattfinden und der thermische Druck, der der Gravitation bislang widerstanden und den Stern aufgeblasen hat, abrupt nachlässt. Dieser Kollaps presst den Kern des Sterns in der Regel zu einem Neutronenstern und setzt dabei gewaltige Energiemengen durch Neutrinos frei. Die Neutrinos entstehen bei den extremen Bedingungen im Innern des neugeborenen Neutronensterns, wo die Dichten höher als in Atomkernen sind und die Temperaturen etliche Milliarden Grad Kelvin erreichen können.

Seit Jahrzehnten arbeiten theoretische Physiker daran, die physikalischen Prozesse zu verstehen, welche die Sternexplosion auslösen und antreiben. Eine populäre Idee stellt die Neutrinos in den Fokus, weil diese über einhundertmal mehr Energie wegtragen als die Sternhülle, die bei der Explosion einer typischen Supernova ausgeschleudert wird. Dabei wird ein kleiner Bruchteil der Neutrinos, die dem Innern des Neutronensterns entkommen, von der umgebenden Materie wieder absorbiert, wodurch die umgebende Gashülle aufgeheizt wird. Dies führt zu sehr heftigen Bewegungen – ähnlich denen in einem Topf mit kochendem Wasser. Wird das Brodeln schließlich zu heftig, kommt es zu einer Supernovaexplosion – ähnlich dem Wegsprengen des Topfdeckels, wenn das Brodeln zu heftig wird. Supernovae sind nach heutigem Forschungsstand ein wichtiger Mechanismus für die Entstehung des Lebens. Die Explosion einer Supernova erzeugt verschiedene Elemente, unter anderem auch schwerere Elemente als Eisen. Für die Bildung einer komplexen Welt und auch für die Bildung komplexen Lebens werden aber nahezu mit Sicherheit auch schwerere Elemente benötigt – man denke da nur etwa an das Eisen in unserem Blut. Da wir auf der Erde aber jede Menge schwerere Elemente als Eisen vorfinden, können wir einen überraschenden Schluss ziehen: Wir sind vermutlich aus den Überresten einer Supernova entstanden, die einst vor Milliarden von Jahren eine Fülle verschiedener Elemente in die Weiten unserer kosmischen Nachbarschaft hinausgeschleudert hat – und diese sich später zu unserem Heimatstern und unserem Planetensystem verdichteten.

Dunkle Materie, Antimaterie und das Gleichgewicht der Welt

Mittlerweile rücken die Neutrinos auch deshalb immer mehr in den Fokus der Physik, weil sie eine Rolle bei zwei der größten ungelösten Rätsel der modernen Kosmologie spielen könnten. Zum einen gibt es Theorien, gemäß denen Neutrinos – oder verwandte Teilchen – einen Teil der Dunklen Materie ausmachen könnten. Aufgrund ihrer Masse und ihrer schwachen Wechselwirkung mit normaler Materie wären sie ideale Kandidaten. Zum anderen könnten sie eine Schlüsselrolle bei der Beantwortung der Frage spielen, wieso in unserem Universum mehr Materie als Antimaterie existiert? Ein mögliches Argument liegt in der Verletzung der sogenannten CP-Symmetrie – und genau hier könnten Neutrinos eine entscheidende Rolle spielen, etwa durch ihre eigenen Antiteilchen, die Majorana-Neutrinos. Ob jedoch zwischen Neutrinos und ihren Antiteilchen, den Antineutrinos, unterschieden werden muss, ist derzeit noch eine offene Frage.

Beide Fragen führen an die Grenzen des Bekannten – und machen deutlich, dass wir über Neutrinos vielleicht erst den Anfang verstanden haben, es aber noch einen ganzen Ozean zu erforschen gilt. Neutrinos sind stille, scheue, aber allgegenwärtige Akteure des Kosmos. Sie begleiten die größten Prozesse im Universum, liefern Hinweise auf dessen Ursprung und mögliche Zukunft – und stellen zugleich unser Verständnis der Physik immer wieder infrage. Ihre Geschichte ist eine Geschichte der Überraschungen. Nicht selten hat sich herausgestellt, dass gerade sie die entscheidende Komponente eines physikalischen Mechanismus bilden, trotz ihrer geisterhaften Rolle. Aber vielleicht stehen uns die spannendsten Entdeckungen erst noch bevor …